Wenn Kinder und Jugendliche nicht mehr weiterwissen

30 Jahre Rat auf Draht: Beraterin Elke Prochazka im Interview über die Einflüsse und Auswirkungen von Internet, Handy und Co.

Rat auf Draht ist täglich 24 Stunden lang erreichbar. Elke Prochazka (ganz rechts) und ihre vier KollegInnen sind nur ein Teil des insgesamt etwa 16-köpfigen Teams.

147 - so lautet die Rat auf Draht-Notrufnummer, an die sich Kinder, Jugendliche und deren Bezugspersonen für Beratung zu allen Kinder- und Jugend-Problembereichen wenden können. Heuer feiert Rat auf Draht 30-jähriges Jubiläum. Psychologin Elke Prochazka arbeitet seit 16 Jahren dort und sprach im Interview über die Einflüsse und Auswirkungen, die durch neue Medien entstanden.

Haben sich die Themen der Beratungen bei Rat auf Draht durch das Auftauchen von Handy, Internet und Co. In den vergangenen Jahren verändert?

Elke Prochazka: "Die Themen haben sich in all der Zeit relativ wenig verändert. Außer, dass die ganze Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen mit dem Internet verknüpft ist. Sei es Mobbing, das sehr oft mit Cybermobbing kombiniert ist und dann andere Auswirkungen hat. Sei es Suizid, wo sie nun sehr viel leichter für sich selber herausfinden können, wie man das überhaupt macht und möglicherweise auf Leute treffen, die sie in dem noch bestärken. 

Sexualität ist schon ein Bereich, wo wir's merken. Durch den freien Zugang zur Online-Pornographie merkt man schon, dass Fragen dazu gekommen sind, die's so nicht gegeben hat. Als ich begonnen habe, haben eher Ältere z.B. nach bestimmten Praktiken gefragt und wollten wissen was das ist und worauf sie aufpassen müssen. Mittlerweile fragen deutlich Jüngere nach solchen Dingen, und da ist die Frage aber nicht mehr was ist das überhaupt, weil sie da einfach schon Bilder dazu haben, sondern ‚wenn ich das erste Mal Sex habe - wann muss ich das dann machen?'.

Leider hat sich aufklärungstechnisch in den 16 Jahren so gut wie nichts verändert. So wird im Grunde Pornografie Tür und Tor geöffnet die erste Infoquelle zu sein. Das Aufklärungsgespräch 'irgendwann in der Pubertät', wie's in vielen Köpfen noch verankert ist, ist eigentlich viel zu spät, das Interesse daran wo Kinder herkommen besteht schon im Volksschulalter und ist ganz natürlich. Da gibt's sehr oft einen ersten Kontakt zur Online-Pornografie."

In Sachen Jugend und (neue) Medien kursieren die verschiedensten vermeintlichen Problemfelder: Sexting, Kettenbriefe uvm. Inwieweit tauchen diese Themen tatsächlich in den Beratungen auf?

E.P.: "Was Jugendlichen in Sachen Sexting vorgeworfen wird, ist unfassbar - und wie falsch dieser Begriff verwendet wird. Sexting bedeutet, ich entscheide für mich so ein Foto jemanden zu schicken, der's haben mag. Wenn jemand das weiterschickt, z.B. aus Rache, dann ist das kein Sexting mehr, sondern jemand, der sich ganz klar im Rahmen von pornografischer Darstellung Minderjähriger strafbar gemacht hat. Rund ein Drittel sind's, die Sexting betreiben. Schaut man sich aber zeitweise die Medien an, hat man das Gefühl, jeder Jugendliche schickt Nacktfotos oder -videos. Oft sind die Erwartungen auch völlig falsch. Gerade bei Sexting sind's oft Jugendliche, die in ihrer ‚Offline-Welt' nicht so gut ankommen, die dann versuchen etwas zu tun ‚damit endlich mal mich jemand attraktiv findet'. Es ist schon wesentlich da hinzuschauen, weil die Erwartungshaltung bei so etwas oft eine falsche ist. 

Das Thema Kettenbriefe ist eines der beherrschenden Themen zurzeit. Obwohl sie oft wissen, dass das eigentlich alles ein Blödsinn ist, funktionieren sie trotzdem und machen einfach Angst."

Mangelt's hier insgesamt an Aufklärung?

E.P.: "Man merkt's, wenn man's z.B. mit der Verkehrserziehung vergleicht: Kein Mensch würde sein Kind in die Schule schicken, ohne dass man vorher den Schulweg gemeinsam geht, bespricht wer das Kind von der Schule abholen darf, auf wen man nicht eingeht usw. Das ist etwas völlig Selbstverständliches. 

Wenn's aber dann um das Internet geht, fehlt plötzlich diese Selbstverständlichkeit. Viele suchen nach einer Möglichkeit - oft sind's Filter - um das Gefühl zu haben man kann die Kinder schützen, muss mit ihnen aber nicht drüber sprechen. Ganz viele Kinder kennen aber schon in der Volksschule sexuelle Nachrichten, die sie z.B. über Spieleplattformen geschickt bekommen und oft haben sie schon selber Strategien: zu melden, blockieren, zurück zu ärgern usw. Das ist eigentlich schade, dass sich die Kinder solche Strategien selber zurechtlegen, anstatt sie von den Eltern zu bekommen. Auch Lehrkräfte wissen oft nicht Bescheid über solche Dinge und können dann nicht so gut Hilfe geben. Aber ich verstehe, dass ihnen irgendwann wirklich die Zeit ausgeht. Doch egal ob Lehrkräfte oder Eltern: Sie haben oft das Gefühl überfordert zu sein und nicht mitzukommen. Wobei wir auf unserer Webseite oder auch Saferinternet.at wirklich versuchen viele Infos zu geben, wo man als Bezugsperson z.B. sagen kann ‚das weiß ich jetzt auch nicht, aber weißt was - schauen wir mal gemeinsam nach'."

Im persönlichen Umfeld: Wer sind da die Ansprechpersonen der Kinder und Jugendlichen bei solchen und ähnlichen Problemen?

E.P.: "Eine Ansprechperson bin ich nur dann, wenn ich zeige, dass ich mich da auch auskenne oder wenn man das Vertrauen vermittelt, dass die Kids zu einem kommen können, um dann z.B. gemeinsam nach weiterer Hilfe zu suchen. Sätze wie ‚ist ja klar, wennst da drinnen bist, dass sowas passiert' oder ‚was soll ich da tun, das hat ja nix mit der Schule zu tun' sind ein klares Ausschlusskriterium, aber so etwas bekommen Jugendliche durchaus zu hören. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Jugendliche sehr oft Hilfe suchen. Doch bis ihnen wirklich einmal jemand zuhört oder sie ernst genommen werden, wird ihre Suche nach Hilfe oft abgetan. Es kriegen eher die Hilfe, die sehr hartnäckig dran bleiben. Manchmal wird ihnen nicht geglaubt, manchmal wird's runtergespielt - gerade bei Mobbing ist das ein großes Thema."

Welche Erfahrungen haben Sie diesbezüglich beim Thema Mobbing/Cybermobbing gemacht? Wo sehen Sie dabei Möglichkeiten zur Prävention für Schulen?

E.P.: "Wir waren mit Rat auf Draht an Schulen unterwegs und haben zusätzlich eine Online-Befragung gemacht - und es war erschütternd. Egal wo wir waren, welches Bundesland, welche 'Schicht', welche Schulen: Es ist immer wieder herausgekommen, dass es eigentlich normal ist, dass jemand ausgegrenzt wird - normal für die SchülerInnen, aber auch für die Lehrkräfte. 

Ich finde, es ist ganz wichtig, dass man in der Schulordnung etwas zum Umgang miteinander hat. Dieser Umgang miteinander sollte auf jeden Fall auch für den Cyberraum erweitert sein, denn dann hat man eine klare Grundlage um überhaupt zu handeln. Wenn ein Konflikt nicht in der Klasse, sondern im Cyberraum ausgetragen wird, z.B. in WhatsApp, stört er trotzdem die Klasse und so wiederum das Lernen.

Deshalb, glaube ich, müssen wir aufpassen, dass man nicht nur die technischen Fertigkeiten lehrt, sondern es braucht vor allem die Vermittlung von sozialer Kompetenz, von Empathie. Das wäre etwas Grundsätzliches, was helfen würde in der Gewaltprävention, bei Cybermobbing und allen Gruppenphänomenen, die man in der Schule so hat. Ein Fach in der Richtung wäre, glaube ich, eine Grundvoraussetzung zur Prävention solcher Probleme. Danach kann man auch noch über die Medienerziehung ein Stück weit reden, aber dafür braucht's auch wirklich Zeit. Dass man versucht es noch so nebenbei in den Unterricht mit rein zu nehmen, ist meiner Meinung nach absolut nicht ausreichend. Man muss den Lehrkräften die Chance geben hier wirklich ausgebildet zu werden und auch Zeit dafür zur Verfügung zu haben. Bis das alles als Voraussetzung geschaffen ist, kann ich jeder Lehrkraft nur empfehlen, sich mit der Welt der Jugendlichen ein bisschen auseinander zu setzen. Ich glaube, ich nehme mir einfach meine Kompetenz, wenn ich in der Arbeit mit Jugendlichen nicht mehr weiß, was Jugend heutzutage bedeutet."

In welcher Rolle sehen Sie die Schulen in Sachen Medienkompetenz-Vermittlung?

E.P.: "Nachdem Schule und Medien so verwoben sind, kann sich die Schule da, glaube ich, nicht rausnehmen. Die Schule alleine ist es aber nicht, die da Erziehungsarbeit leisten sollte und der man das übertragen kann. Da sind schon alle gefragt, aber die Schule muss ein Teil sein, weil sie viele solcher Medien verwendet. Ich kann als Schule nicht irgendein Tool nützen, wie z.B. WhatsApp für Hausaufgabengruppen, ohne zu überlegen 'wer schaut drauf, dass das in geregelten Bahnen abläuft?'. Oder wenn's um Recherche geht: Wenn ich das aktiv nütze, dann kann ich nicht nur erklären wie man Infos sucht, sondern auch wie man richtige von falschen unterscheidet. Über alles, was ich nütze und einsetze, braucht's Infos. Das bereitet sie ja auch aufs Arbeitsleben vor, es gibt kaum mehr einen Job, wo ich all dem entgehen kann."


Zu Rat auf Draht:

Rat auf Draht ist für Kinder, Jugendliche und deren Bezugspersonen täglich und rund um die Uhr unter der Notrufnummer 147 erreichbar. Auf der Rat auf Draht-Webseite wird zusätzlich Online-Beratung, drei Mal wöchentlich Chat-Beratung und viel Information zu verschiedensten Problembereichen von Kindern und Jugendlichen geboten.

Der heutige Kinder- und Jugend-Notruf startete im Herbst 1987 als ORF-Sendung, die schon bald zu einer dauerhaften Telefonberatung wurde. Im Jahr 1999 wurde Rat auf Draht die Notrufnummer 147 zugeteilt und somit eine kostenlose, 24-Stunden-lange Erreichbarkeit ermöglicht. Heute ist Rat auf Draht kaum mehr wegzudenken: Im Jahr 2016 zählte man 67.782 Telefonkontakte und insgesamt 314.713 Minuten telefonische Beratung. Hinzu kommen 2.294 Online-Beratungen und 1.404 Chat-Beratungen.


Zur Person:

Elke Prochazka ist Psychologin und war viele Jahre lang in allen Beratungskanälen tätig (Telefon, Chat, Online). Aktuell betreut sie die Webseite, die Social Media-Kanäle und den WhatsApp-Broadcast von Rat auf Draht. Außerdem ist sie Projektleiterin der Workshopreihen SeXtalks 2.0 - Sexualität & digitale Medien und #ME - Körper & digitale Medien.



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