Der Sommer der kleinen Manto
"Ich gehörte zu der Insel wie die Olivenbäume. Und wie der Wind. Und wie das gelbe Gras. Und wie das Licht. Und wie Eleni. Und ich wollte nicht von der Insel weg. Aber Mama hat mich nicht gefragt."
Schon die ersten Zeilen von Lizzy Hollatkos neuem Buch machen klar, dass dies eine Abschiedserzählung ist:
Die neunjährige Manto muss mit ihrer Mutter die namenlos bleibende kleine griechische Insel verlassen, um in deren Heimat England zurückzukehren. Grund dafür ist - zumindest nehmen wir es aus der Ich-Perspektive der Protagonistin so wahr - der Vater, der zu viel weg ist und zu viel trinkt, wenn er da ist.
Als eine Art Strategie gegen die Angst vor den heftigen Streitereien zwischen den Eltern entwickelt Manto ihr Spiel: "Ich sollte jeden Tag etwas tun, an das noch nie jemand zuvor gedacht hatte." Was das sein kann? Dafür zu sorgen, dass die Marienstatue von Oma Zoe nicht mehr weint, den Hennen die Weite des Meeres vor Augen führen, sich vom Esel Orpheus hinführen zu lassen, wo immer er hinwill …
Das Mädchen läuft in ihrem Tupfenkleid und mit offenen Augen durch diese kleine Welt, nimmt deren Schönheit und Besonderheit wahr und macht sie noch schöner. Und als LeserIn glaubt man sich schnell mittendrin: Nimmt man vom Hafen den steilen Stufenaufgang, kommt man direkt in den Garten von Oma Zoes Haus, wo auch Manto mit ihren Eltern wohnt. Von dort ist es nicht weit zu Tante Loukia und zu Antigones Taverne, dahinter ist die Anhöhe, von der man auf den Strand sieht. Auf dem Dorfplatz gibt es die Kirche und die kleine Krankenstation, wo Mantos Mutter arbeitet, und im Supermarkt verkauft Onkel Tasos, was man braucht. Die Thymiansträucher duften und die Häustüren sind nicht abgeschlossen …
Lizzy Hollatko wurde für "Der Sandengel" mit dem Preis der Stadt Wien 2014 und dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2015 ausgezeichnet. Sie nimmt mit "Der Sommer der kleinen Manto" Aspekte der literarischen Tradition der Dorfgeschichte auf: der überschaubare Kosmos von Manto funktioniert wie eine kleine Welt für sich, fernab von der großen. Und er ist eine fast vollkommene Idylle. Aber der Erzähleinsatz, der klar gemacht hat, dass dieses Leben schon vorbei und die Erzählung ein Rückblick ist, sowie die Angst vor den Auseinandersetzungen der Eltern, die über dem Sommer hängt wie eine dunkle Wolke, die immer nur vorübergehend aus dem Blick gerät, bewahrt die leise und langsame Erzählung voller schöner Bilder und skurriler Szenen davor, sentimental zu sein.
Eine Abschiedsgeschichte als Liebeserklärung an die Schönheit der Welt.