Demokratie und Soziale Medien: Keine Liebe auf den ersten Klick

Emotionalisierung, Spaltung, Wahlmanipulation – welche Gefahren drohen aus der digitalen Welt?

Berichte & Reportagen
Im Vordergrund sind Menschen bei den Wahlurnen zu sehen, im Hintergrund Symbole von Sozialen Medien

Im Dezember 2024 wurde die erste Runde der Präsidentschaftswahlen in Rumänien vom Verfassungsgerichtshof annulliert. Grund dafür war der Vorwurf, dass ein Kandidat den Urnengang mithilfe seiner TikTok-Präsenz unlauter manipuliert hatte. Soziale Medien sollen also den Ausgang der Wahl massiv beeinflusst haben, und dies noch dazu in illegaler Form.

Ein derartiger Vorwurf ist dabei längst nicht mehr einzigartig, schon gar nicht neu. Man denke nur an den Skandal rund um Cambridge Analytica im US-Wahlkampf 2016, als die Datensätze von 87 Millionen Facebook-User:innen weitergegeben wurden, um in deren Wahlentscheidung mittels sogenanntem “Micro-Targeting” (also gezieltes, individualisiertes Ausspielen von Werbung, Anm.) einzugreifen. Eine Publikation der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erklärt dazu, “dass es unmöglich zu belegen sei, ob individuelles Wahlverhalten beeinflusst wurde oder nicht. Belegt ist jedoch, dass bei den Cambridge-Analytica-Kampagnen Grundsätze der liberalen Demokratie wie Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und Möglichkeit zur freien Meinungsbildung verletzt wurden.”

Es ist also unbestritten, dass Soziale Medien einen immer größeren Impact auf die Gesellschaft und damit auch deren politischen Strukturen haben. Ob und welche Gefahren von ihnen ausgehen, soll dieser Artikel näher beleuchten. 

Soziale Medien immer mehr Hauptquelle bei News

Wie auch bereits in unserem Artikel über das Phänomen Newsfluencer:innen erwähnt, nehmen Soziale Medien als Nachrichtenquelle eine immer wichtige Rolle ein. In Österreich liegen sie bei 18- bis 24-Jährigen mit 44,9% mittlerweile unangefochten auf dem ersten Platz (siehe Grafik unten). 

Bei 12- bis 19-Jährigen werden laut aktueller JIM-Studie aus Deutschland Instagram, YouTube und TikTok von rund einem Drittel zur Information über das Weltgeschehen genutzt - wobei die Werte mit zunehmendem Alter steigen. Lediglich Familie und Freund:innen sowie auch Nachrichten in TV/Radio sind bei den Nennungen noch vorgereiht.

Betrachtet man nur den politischen Kosmos der Nachrichtenwelt so sind diese Werte sogar noch um etliches höher: Rund zwei Drittel der 16- bis 26-Jährigen geben in Österreich Soziale Netzwerke als Hauptinformationsquelle in diesen Belangen an (ORF-Artikel, gesamte Studie). 

Zu einem ähnlichen Ergebnis kam im Vorjahr eine Umfrage in Deutschland, laut der sogar 77 Prozent der 16- bis 29-Jährigen Social Media als ihre Hauptinformationsquelle für politischen Kontext anführten. Eine wichtige Rolle spielten dabei auch Messenger-Dienste wie Telegram, WhatsApp & Co.

Wie viel Algorithmus verträgt Demokratie?

Gerade aufgrund dieser immer stärker zunehmenden Bedeutung rücken Soziale Medien in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, werden oftmals auch als Gefahr für demokratische Grundordnungen angesehen. So läuft etwa das bereits oben erwähnte “Micro-Targeting” weitgehend im Verborgenen ab, weil Social-Media-Konzerne ihre diesbezüglichen Daten meist nicht öffentlich zugänglich machen - selbst wenn sie dazu verpflichtet wären (siehe auch Bericht über das Team der politischen Kommunikationsforschung an der Uni Wien).

Mit ihrem Algorithmus verfügen die Plattformen zudem auch grundsätzlich über den zentralen Schalthebel, welche Inhalte an welche Nutzer:innen ausgespielt werden, welche gepusht, unterdrückt oder gar verboten/zensuriert werden. Dass die Eigentümer von einflussreichen Social-Media-Kanälen ihre Interessen durchaus auch gern in die politische Waagschale werfen, zeigte spätestens auch die Involvierung von Elon Musk in den deutschen Bundestagswahlkampf

Aber auch mit der Sperre politischer Inhalte der Demokratischen Partei auf allen Meta-Kanälen (also etwa Facebook und Instagram) nach der US-Wahl 2024 wurde klar Einfluss genommen (siehe Standard-Artikel). Kurz davor waren bereits die Faktenchecks unter dem Deckmantel der “Meinungsfreiheit” abgeschafft worden.

Nicht zuletzt mit diesem Schritt wird wohl einer Grundeigenschaft von Sozialen Medien weiter Auftrieb gegeben, die sich unter “Logik der Emotionalisierung” zusammenfassen lässt. Extreme Inhalte bzw. Standpunkte sorgen für mehr Aufmerksamkeit und haben somit im Wettstreit um Klicks, Likes und Shares einen klaren Startvorteil. Dies wird auch bewusst von politischen Mitbewerber:innen im digitalen Raum genutzt.

Emotion auf der Überholspur

Bereits seit Längerem wird daher auch der Aufstieg von rechtspopulistischen bis rechtsextremen Parteien in Europa direkt mit der Bedeutung von Sozialen Medien in Zusammenhang gebracht. Zwei aktuelle deutsche Studien kommen hier aber zu durchaus differenzierten Ergebnissen. So nahm etwa die Otto Brenner-Stiftung in ihrer Studie “Social-Media-Partei AfD?” die drei Landtagswahlkämpfe in Thüringen, Sachsen und Brandenburg genauer unter die Lupe. 

Klar zeigte sich dabei, dass die Partei durchaus als “Early Adopter” in Sozialen Medien zu sehen ist und damit bewusst früh alternative Kanäle zu traditionellen Medien aufgebaut hat (unter diesem Link etwa auch ein Artikel über die AfD-Vormachtstellung auf TikTok). Besonders geschickt wird vor allem auf der Klaviatur der verschiedenen Plattformen gespielt, wenn etwa YouTube fast schon frei jeglicher sonstiger Radikalitäten vor allem für einen “Feel-Good-Wahlkampf” genutzt wird. Es wird überwiegend die Atmosphäre bei Auftritten von AfD-Politiker:innen eingefangen und weniger auf Polarisierendes gesetzt. Im Gegensatz dazu wird in parteieigenen Messenger-Kanälen ein durchaus rauerer Ton angeschlagen und vor allem die Kernwähler:innen angesprochen.

Starke Netzwerke wichtig, aber nicht immer alles

Als wichtiger Erfolgsfaktor für die Verbreitung der digitalen Inhalte zeigt sich auch das über die Jahre aufgebaute Netzwerk an Unterstützer:innen, durchaus auch Influencer:innen und Newsfluencer:innen am rechten Rand. Erst dadurch erreichen manche Vertreter:innen der Partei ihre enorme Reichweite, obwohl sie bei oberflächlicher Betrachtung zum Beispiel über wenige Follower:innen verfügen. Interessanterweise sind zudem die echten Großaccounts, wie etwa Thüringen-Vorsitzender Björn Höcke mit weit über 100.0000 Follower:innen, selbst mitten im Wahlkampf selten übermäßig oft aktiv (Höcke konkret mit vier Videos in dieser Zeit).

Anhand zweier konkreter Beispiele zeigt die Studie aber auch, dass ein starker Auftritt in den Sozialen Medien nicht automatisch einem Wahlerfolg gleichkommt: Einerseits mit den bezahlten Einschaltungen auf Facebook und Instagram durch die FDP, die in Sachsen jene der AfD um fast das Doppelte, in Thüringen sogar um ein Zigfaches überstiegen. In beiden Bundesländern kam die liberale Partei nicht in die Landtage.

Andererseits verfügten die politisch der AfD sehr nahe stehenden Freien Sachsen ebenfalls über gute Netzwerke auf digitalen Plattformen und ähnliche Reichweiten. Diese Stärke konnten sie an den Wahlurnen allerdings nicht bestätigen.

Jugendliche und Politik im digitalen Raum

Darüber, wie junge Menschen politische Inhalte im digitalen Raum wahrnehmen, gibt eine Tagebuchstudie der Landesanstalt für Medien im deutschen Nordrhein-Westfalen mehr Aufschluss. Dafür wurden 50 Jugendliche über eine Woche per Online-Tagebuch begleitet, in das sie ihre Medienerlebnisse eintrugen. Auch hier wurden Soziale Medien (YouTube hier allerdings mit eigenständiger Wertung) als wichtigste Informationsquelle zu politischen Themen angegeben, mit Abstand gefolgt von öffentlich-rechtlichen Medien.

Besonders auffallend dabei ist, dass durchaus ein großer Wunsch nach Seriosität und objektiver Information samt Quellenangaben vorhanden ist, andererseits aber auch ein hoher Unterhaltungswert eingefordert wird. Zu lange Beiträge werden etwa sehr schnell als “langweilig” klassifiziert, weil mit Sozialen Medien Freizeit verbunden wird. Zudem ist auch durchaus ein Bewusstsein für die Gefahren bei der Nutzung etwa durch Desinformation und Deep Fakes vorhanden. Gegencheck durch Recherche wird aber oft als zu zeitaufwändig empfunden. 

Selten folgen die Jugendlichen jener Partei, die sie präferieren (die einzigen Ausnahmen sind Bündnis Sarah Wagenknecht und AfD, denen viele potenzielle Wähler:innen auch folgen). Noch weniger wird gezielt nach politischen Inhalten oder gar Partei-Inhalten gesucht, Influencer:innen nehmen hier eine viel wichtigere Rolle ein. 

Grundsätzlich kommt die Studie zu folgendem Ergebnis: “Wahlentscheidungen werden durch politische Beiträge nicht verändert, aber bestärkt. Langfristige Effekte können durch den wiederholten, dauerhaften Konsum politischer Informationen und Botschaften entstehen.”

It's the media literacy, stupid!

Wie können nun aber mögliche negative Folgewirkungen durch die immer größere Bedeutung von Sozialen Medien in der Politik, aber auch in allen anderen Lebensrealitäten von Jugendlichen und allen anderen Menschen abgemindert oder gar verhindert werden? Frei nach dem häufig zitierten Spruch eines Chefstrategen in Bill Clintons Präsidentschaftswahlkampf 1992 könnte man etwa einwerfen: “It's the media literacy, stupid!” (Also: “Es geht um Medienkompetenz, Dummerchen!” statt im Original economy/Wirtschaft)

So kommt jedenfalls die Österreichische Akademie der Wissenschaften in ihrer Stellungnahme “Sind Soziale Medien eine Gefahr für unsere Demokratie?” zu dem Schluss, dass die Vermittlung von Medienkompetenz einer der zentralen Ansatzpunkte ist, um möglichen negativen Effekten bei der Frage rund um Politik und Soziale Medien entgegenzuwirken. Desinformationen, manipulative Inhalte, aber auch gezielte Werbeschaltungen können so im besten Fall bereits von den Nutzer:innen selbst erkannt und zumindest eingeordnet werden. Gerade auch aufgrund von immer niederschwelliger anwendbaren KI-Tools wird dies in bereits naher Zukunft sogar von noch größerer Bedeutung sein.

Selbstverständlich sind dabei auch die Stärkung demokratischer Kontrolle von digitalen Plattformen wünschens- und unterstützenswert. Sie erweist sich aber oftmals als langwieriger Prozess, der immer wieder in Gefahr geraten kann (siehe oben Meta-Faktencheck etc.). 


Erwähnte Studien bzw. Reports

Für diesen Artikel wurden folgende Studien, Reports verwendet, bzw. als Hintergrundinformation genutzt:


Lern-App-Tipps

Folgende Lern-Apps behandeln einzelne Aspekte des Artikels und können für die Bearbeitung im Unterricht eingesetzt werden. Finden Sie hier unsere ausführlichen Tests samt Einsatzmöglichkeiten in der Schule:

  • Deine Insel (Sek 1, Sek 2)
    Ein kurzweiliges Lernspiel, um die Entstehung von Regierungsformen kritisch zu beleuchten.
  • Zivilcourage Online (Sek 1, Sek 2)
    Eine App mit Informationen und interaktiven Übungen rund um das Thema Zivilcourage im Netz.
  • Ezra (Primarstufe, Sek 1)
    Ein niederschwelliges Lernspiel über Teilhabe und Falschinformationen
  • Mission 1929 (Sek 2)
    Ein Lernspiel, um geschichtliches Wissen rund um die Weimarer Republik zu generieren und zu reflektieren.
  • Leons Identität (Sek 2)
    Ein detektivisches Abenteuerspiel, das für rechtsextremistische Einflüsse und Radikalisierung im Internet sensibilisiert.
  • Loulu (Sek 2)
    Ein intensives Lernspiel, um Schüler:innen für das Thema Hass im Netz und Rechtsextremismus zu sensibilisieren.

Kinotipp: "Demokratie im Film" bei wienXtra

Wie kann eine demokratische Gesellschaft funktionieren? 
Was bedeutet Gerechtigkeit und Mitbestimmung? 

Bei vier Filmen zum Schwerpunktthema Demokratie bekommen Schulklassen im Cinemagic noch bis Juni einen Anstoß, über politische Systeme nachzudenken, über Demokratie zu sprechen und Zivilcourage zu leben. Bei einigen Terminen gibt's im Anschluss ein Filmgespräch.

Die einzelnen Filme: