Medienheld:innen in the News: Wer erklärt uns die Welt?
Die klassische Medienwelt ist seit Längerem in der Krise: Ob nun Journalismus für die auf Papier gedruckte Zeitung oder die Nachrichtenmoderator:innen in den TV-Studios, beide erreichen jüngere Zielgruppen immer schwieriger und weniger. So zeigte etwa eine deutsche Studie 2023, “Was viele Jugendliche an klassischen Nachrichten stört”. Zu wenig Bezug zur eigenen Lebensrealität, Schwierigkeiten mit der Aufmachung und wenig Interaktionsmöglichkeiten werden dabei oft als Grund für die Abkehr von klassischen Journalismus-Formaten genannt.
In diese Lücke stoßen zusehends Newsfluencer:innen, eine Spezialform von Influencer:innen, die das Weltgeschehen in den Sozialen Medien aufbereiten und kommentieren. Wer diese sind, was diese machen und welche Probleme damit einhergehen, wollen wir im Folgenden thematisieren und dabei auch aktuelle Studienergebnisse präsentieren. In einem weiteren Teil dieser kurzen Artikelreihe werden wir zudem einige Newsfluencer:innen und deren Arbeit genauer vorstellen und Einsatzmöglichkeiten im Unterricht thematisieren.
Was sind Newsfluencer:innen?
Grundsätzlich gelten als Newsfluencer:innen jene Art von Influencer:innen, welche über das aktuelle Weltgeschehen berichten, es einordnen oder kommentieren. Laut dem Hauptautor des aktuellen “Digital News Report” des Reuters Institute an der Universität von Oxford, Nic Newman, zeigt sich hier aber vor allem die Problematik, dass junge Menschen zusehends eine breitere Definition für “News/Nachrichten” verwenden als sie traditionell lange gegolten hat bzw. in einer klassischen Nachrichtensendung vorgekommen wäre (siehe Podcast-Interview [englisch]: “The rise of news influencers”).
Für ihre Studie mit mehr als 95.000 Menschen in 47 Ländern verwendeten die Forscher:innen daher auch eine sehr breite Definition des Begriffs Newsfluencer:innen, die sich nach Durchsicht der Studie und mehrerer Interviews wohl am ehesten auf folgende drei Kategorien zusammenfassen lässt:
- Kategorie 1: Klassische Influencer:innen, wie etwa auch Celebritys oder Sportstars, die neben ihrem personenbezogenen Content ab und an auch zu gesellschaftlich relevanten Themen Bezug nehmen (etwa: Klimaschutz, soziale Probleme, Kriege, Katastrophen und Hilfe für Betroffene).
- Kategorie 2: Content-Creator:innen, die auf ihren Kanälen ganz bewusst über einen Ausschnitt des Weltgeschehens berichten. Dies sind neben “Hard news” wie etwa Politik/Wirtschaft aber (und meist vor allem) auch alle Aspekte von “Soft news”, die auch einen Unterhaltungsfaktor bzw. Sensationsfaktor aufweisen.
- Kategorie 3: Klassische Journalist:innen, die über reichweitenstarke Accounts in den Sozialen Medien verfügen und ihre Sicht der Dinge vermitteln. Dabei unterteilen sich diese wiederum in jene, die noch für ein klassisches Medienunternehmen arbeiten, und zweitens in ausgestiegene ehemalige Medienstars, die nun ein eigenes Geschäftsmodell zu entwickeln versuchen.
Von Taylor Swift bis Dylan Page und Hugo Decrypte
In diese große Bandbreite fallen daher etwa internationale Stars wie US-Musikerin Taylor Swift oder Fußballstars wie Lionel Messi (Kategorie 1) ebenso wie der umstrittene Star-Journalist Tucker Carlson (Kategorie 3), der nach einer langjährigen Karriere bei CNN und Fox News in den USA nun selbständig mit seinen eigenen Formaten auf X (ehemals Twitter) und YouTube auftritt und ein Millionenpublikum erreicht.
Zu Kategorie 2 zählt etwa der britische Influencer Dylan Page, laut Eigenbeschreibung “Nummer 1 News-Account auf TikTok”, wo er über 14 Millionen Follower:innen verfügt (neben knapp 900.000 auf Instagram und 500.000 auf YouTube). Ein weiteres sehr erfolgreiches europäisches Beispiel ist der Franzose Hugo Decrypte, mit knapp sieben Millionen Follower:innen auf TikTok, über vier Millionen auf Instagram und etwas über drei Millionen auf YouTube. Letzterer erhielt im “Digital News Report” mehr Nennungen als die großen französischen Medientitel “Le Monde”, “Le Figaro” und “Liberation” zusammengenommen (!).
Alte Männer und viele Plattformen
Edward Hurcombe von der RMIT University of Melbourne sieht dabei das Phänomen der Newsfluencer:innen in einem wissenschaftlichen Artikel als logische Weiterentwicklung der Blogger:innen und des “Citizen Journalism” (Graswurzel-Journalismus) in einer Frühphase des Internets. Einen entscheidenden Entwicklungsschub hätten vor allem die auftauchenden Monetarisierungsmöglichkeiten von Content geliefert, der Newsfluencer:innen neue und vor allem lukrativere Verdienstmöglichkeiten eröffnete. Wichtiges Merkmal sei zudem auch, dass diese Content-Produzent:innen de facto immer gleichzeitig auf mehreren Plattformen aktiv seien - mit großem Fokus auf videolastige Kanäle wie etwa TikTok, YouTube, Instagram oder Twitch.
Dies unterstreicht auch die Studie des US-amerikanischen Meinungsforschungsinstitut Pew Research Center, das den Content von 500 Newsfluencer:innen während der Präsidentschaftswahlen 2024 untersuchte. Zwei Drittel der befragten Content-Creator:innen waren demnach auf mehr als einer Plattform aktiv, 27% auf fünf oder mehr. Ebenso wie der bereits oben zitierte “Digital News Report” kommt das Institut dabei zudem zum Ergebnis, dass die Newsfluencer:innen zu einem überwiegenden Teil männlich sind, vor allem wenn man die einflussreichsten bzw. reichweitenstärksten Accounts betrachtet.
TikTok mit (fast) geschlossenem Gender-Gap
“Außerhalb der Top 10 nimmt die Diversität zu, aber innerhalb dieser sind es in den meisten untersuchten Ländern 100% Männer, manchmal ‘nur’ 95%. Noch dazu handelt es sich dabei nicht nur fast ausschließlich um Männer, sondern meist auch eher ältere Männer”, erklärt etwa Forscher Nic Newman vom Reuters Institute. Einzig für TikTok konstatiert das Pew Research Center eine fast ausgeglichene Geschlechterverteilung bei den Produzent:innen.
Eine weitere interessante Beobachtung des “Digital News Report” ist zudem, dass in “älteren” Sozialen Medien wie etwa Facebook oder X/Twitter etablierte Journalist:innen und Medien weiterhin höheren Einfluss haben wie etwa auf TikTok oder YouTube, wo Newsfluencer:innen der Kategorie 2 den klassischen Medien mehr oder weniger eindeutig den Rang ablaufen.
Vor diesem Hintergrund ist auch durchaus die “#eXit”-Bewegung (Weggang von X/Twitter) vieler namhafter deutschsprachiger Journalist:innen im November 2023 doppelt interessant, da es damit hier sicherlich zu Verschiebungen in diesem Feld kommen wird (unter diesem Link finden Sie die Erklärung von TV-Moderator Armin Wolf zu seinem #eXit). Generell ist anzunehmen, dass durch die geänderte Strategie von X-Chef Elon Musk diese Plattform durchaus eine größere Anlaufstelle für Newsfluencer:innen werden kann bzw. sogar soll.
Behind the screens: Was motiviert die Newsfluencer:innen?
Zum Abschluss dieses ersten Teils wollen wir zudem noch eine aktuelle Studie der UNESCO genauer beleuchten, die 500 Content-Creator:innen im Alter von großteils unter 35 Jahren in 45 Ländern als Grundlage hatte. Diese bezeichneten sich zwar nicht durchgehend selbst als “Newsfluencer:innen” oder sind durchgängig als solche zu betrachten, für viele sollte dieses Label aber durchaus zutreffen - oder zumindest im Sinne von Kategorie 1 hin und wieder anwendbar sein.
“Behind the screens” beleuchtet dabei sehr gut die Motivationen, das Selbstbild und die professionellen Hintergründe und Kompetenzen der Influencer:innen, die zum Großteil zwischen 1.000 und 10.000 Follower:innen aufweisen konnten. Die abgedeckten Themengebiete reichten dabei (Mehrfachnennungen möglich) von Mode/Lifestyle (39,3%), Beauty (34%), Reisen & Essen (34%), Gaming (29%) über Unterhaltung/Comedy (27,1%), Shopping/Produktreviews (26,3%) und Fotografie (21%) bis hin zu Tiere/Natur (14,9%), Aktuelle Neuigkeiten/Wirtschaft & Politik (12,2%), Elternschaft/Parenting (11,5%).
31,4% der Befragten bezeichneten die reine Contentproduktion als ihre Haupteinnahmequelle, für viele kamen noch klassische Monetarisierungsformen in Sozialen Medien (Teilung der Werbeeinnahmen, Kommissionen für verkaufte Produkte, Abo-Optionen, Brand Endorsement) dazu. Lediglich 30% gaben an, mit dem kreierten Content gar keine Einnahmen zu erzielen. Wesentlich altruistischer antworteten die Befragten hingegen auf die Frage nach ihrer Hauptmotivation für die Content-Produktion: Hier führte “Mein Wissen mit anderen teilen” (26%) noch vor “Geld verdienen” (23,8%), “Leute unterhalten” (23,4%) und “Meine Meinung vertreten/ausdrücken” (13,8%).
Wer checkt die Fakten?
Für alarmierend hält die UNESCO die Tatsache, dass unter den Content-Creator:innen wenig bis gar kein Bewusstsein zu klassischem journalistischen Handwerkszeug wie Faktencheck oder Verifizierung herrscht. Die Studienautor:innen orten darin ein Einfallstor für Desinformation und Abhängigkeit von übergeordneten Strukturen wie Regierungen, aber auch großen internationalen Konzernen/Marken.
So gaben etwa rund 62% der Befragten an, ihre geteilten Inhalte vor dem Absenden nicht (immer) extra auf Authentizität zu prüfen. Für 33,5% reichte es aus, dass sie die Bezugsquelle als zuverlässig einschätzten bzw. kannten. Insgesamt 41,7% der Influencer:innen gaben die Anzahl an Likes und Aufrufen als zuverlässigsten Nachweis für Glaubwürdigkeit von ihren Online-Quellen an. Für lediglich 17% waren nachvollziehbare Beweise in der Ursprungsnachricht hierbei ein wichtiger Faktor.
Ihre persönliche Erfahrung war dabei die wichtigste Quelle für den produzierten Content (58,1%) - gefolgt von “Eigener Recherche/Interviews mit Expert:innen” (38,7%), “Online-Quellen, dezidiert ohne etablierte Medien” (36,9%), “Etablierte Medienhäuser” (36,9%) und “Tipps von Follower:innen und Freunden” (29,5%).
Zusammenfassung und Ausblick
Gerade die letzten Punkte zeigen, dass ausreichende Medienkompetenzen und Medienkritik für die Nutzer:innen selbst immer wichtiger werden, wenn sie sich in einer zunehmend segmentierteren Informationslandschaft bewegen. Newsfluencer:innen füllen hier Lücken, die traditionelle Medienunternehmen noch nicht besetzt haben - und wohl auch nicht so schnell zurückerobern werden.
Die hier erwähnten sowie zitierten Studien und Reports geben aus verschiedenen Perspektiven einen ersten Einblick auf das grundsätzlich sehr schwer greifbare Thema “Newsfluencer:innen”. Zu unterschiedlich sind teilweise Reichweiten, Themengebiete und auch professionelle Hintergründe oder Motivationen. Gerade deshalb erscheint uns aber auch eine möglichst breite Definition des Begriffs weiterhin am sinnvollsten, weil sie am ehesten die Informationsbedürfnisse vor allem junger Menschen abdeckt.
In Teil 2 der Reihe wollen wir uns mit einigen Newsfluencer:innen und ihrem Content genauer beschäftigen, aber auch Möglichkeiten vorstellen, dieses Thema im Unterricht zu behandeln.
Erwähnte Studien bzw. Reports
Für diesen Artikel wurden folgende Studien bzw. Reports verwendet:
- “Conceptualising the Newsfluencer” (RMIT University Melbourne, 2024): Theoretische Annäherung und historische Einordnung des Begriffs “Newsfluencer”
- “Digital News Report” (Reuters Institute der Universität Oxford, 2024): Studie über das Medienverhalten in 47 Ländern mit über 95.000 Teilnehmenden (Detailergebnisse aus Österreich unter diesem Link)
- “America's News Influencers” (Pew Research Center in Washington DC, 2024): Tiefenauswertung von 500 Influencer-Accounts aus einem Gesamtsample von 28.000 während der US-Präsidentschaftswahlen
- “Verständlicher, nicht so politisch” (Leibnitz-Institut für Medienforschung Hamburg, 2023): Qualitative Teilstudie über junge Menschen, die mit klassischen Nachrichtenangeboten fast nicht mehr erreicht werden
- “Behind the screens” (UNESCO, 2024): Online-Umfrage unter 500 Content-Creator:innen aus 45 Ländern, daran anschließend 20 Tiefeninterviews mit ausgewählten Teilnehmer:innen